Nachruf auf den Ethnologen, Altamerikanisten und Erforscher psychoaktiver Pflanzen und Pilze, Christian Rätsch, der auf der SYMBOLON-Jahrestagung 2006 in Ludwigshafen am Rhein eine spektakuläre Zeremonie durchführte. von Wolfgang Bauer Im September dieses Jahres erreichte mich die schockierende Nachricht, dass Christian Rätsch am 17. September in Kißlegg im Allgäu – vollkommen unerwartet – an den Folgen eines Magengeschwürs gestorben ist. Wenige Tage davor, am 15. September, hatte er gemeinsam mit seinem Co-Autor und Forscherkollegen Markus Berger in Solothurn in einer von Roger Liggenstorfer vom Nachtschattenverlag spontan organisierten Vernissage den zweiten Band der »Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen« der Öffentlichkeit vorgestellt. Dieses international anerkannte monumentale Standardwerk, das im AT-Verlag gerade druckfrisch erschienenen war, enthält fundiert recherchierte Kapitel über Kunst, Literatur und Musik des opiumberauschten 19. Jahrhunderts und neueste Erkenntnisse zu Pflanzen, Pilzen und Bakterien. Ein Anhang informiert über Schnecken in der Ethnopharmakologie psychoaktiver Substanzen, zu dem nur der lebenslange Conchylien-Enthusiast Christian Rätsch beitragen konnte. Seine Sammelleidenschaft für Muscheln und Schnecken begann schon früh. Selbst gefundene, von anderen geschenkte und von seinem Taschengeld gekaufte Muschelschalen und Schneckengehäuse stellten einen wichtigen Teil seines häuslichen Naturalienkabinetts dar. Im Nachruf auf ihn in der Nummer 14 der im Nachtschattenverlag erscheinenden Zeitschrift »Lucys Rausch« heißt es: „Mit dem Verlust dieses Ausnahmewissenschaftlers geht eine Ära zu Ende. Der Einfluss, den Christian auf die globale Drogenforschung hatte, ist kaum zu ermessen. Ungezählte Forscher bauten auf der Grundlage seiner Arbeit eigene wissenschaftliche Felder auf und machten auf diesem Gebiet Karriere. Ohne die Erkenntnisse und Publikationen dieses leidenschaftlichen und wahrhaft unabhängigen Wissenschaftlers wären zahlreiche wichtige Forschungen nie angestoßen oder gar vollendet worden. Der Dank, der ihm dafür gebührt, wird sich wohl erst jetzt artikulieren – und weiten Kreisen bewusst werden, denn niemand hätte damit gerechnet, dass Christian Rätsch schon mit 65 Jahren von uns gehen würde.“ Christian, 1957 geboren, der sich als Kind gern als Indianer verkleidete, wollte, wie er seiner Mutter als Dreieinhalbjähriger überraschend eröffnete, »Dschungelforscher« werden. Aus seinem 6. Lebensjahr hat sich ein Bild von ihm erhalten, auf dem er den Dschungel malte, ebenso ein Bild, wo er einen Zauberer mit Hexenkesseln, in deren Rauch sich gehörnte Geister genüsslich wiegen, porträtierte. An der Universität Hamburg studierte er Volkskunde. Altamerikanistik und Ethnologie. Mit einer Dissertation über die Zauberlieder, Zaubersprüche und Beschwörungsformeln der Lakandonen-Indianer, eines kleinen nie missionierten Maya-Volkes im Bundesstaat Chiapas (Mexiko), wurde er 1985 zum Dr. phil. promoviert. 1982 hatte er in der Regenwaldsiedlung Naha‘ ein Jahr lang – als teilnehmender Beobachter – das Forschungsmaterial im Bereich schamanischer Heilpraktiken für seine Arbeit gesammelt. Sein Freund und Kollege, der Kulturanthropologe und Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl, schrieb zu Christians 60. Geburtstag über diese Erfahrungen im Regenwald: »Christian Rätsch ist kein Völkerkundler, der es bei einer objektiven Außensicht, der sogenannten etischen Sichtweise, belässt, so etwa wie ein Entomologe seine Käfer betrachten würde; er versuchte ebenfalls eine Innenansicht (emische Sichtweise) des kulturellen Kosmos der Lakandonen zu erlangen; er teilte das tägliche Leben der eingeborenen Indianer – was in der Ethnologie als going native bezeichnet wird. Es handelt sich dabei in gewisser Weise um eine sekundäre Sozialisation oder Enkulturation. Der Forscher, der eine derart intensive Begegnung mit einer anderen Kultur hat, kommt verwandelt zurück, als ein anderer, als er zuvor war. Es handelt sich bei diesem Eintauchen in ein anderes kulturelles Universum um ein echtes Initiationserlebnis; es öffnet die Augen für Dinge, die man sonst nicht wahrnehmen würde.« Zur Jahrtausendwende schrieb ich für den AT-Verlag an einem Buchmanuskript zum Thema Fliegenpilz (»Der Fliegenpilz: Traumkult, Märchenzauber, Mythenrausch« , AT Verlag, Aarau 2000). Ich wünschte mir damals sehr, dass der Ethnopharmakologe Christian Rätsch ein Vorwort dazu schreiben sollte. Urs Hunziker, der Verlagsleiter, schlug vor, ich solle doch nach Hamburg zu Christian fahren. Dann könnten wir uns kennenlernen und darüber sprechen. Die Tür zur Wohnung im Birckholtzweg öffnete sich. Christian strahlte mich freundlich an und lud mich in die gemütliche Küche zum Tee ein. Zur Begrüßung entzündete er kostbares Adlerholz. Der Raum füllte sich rasch mit einem unvergleichlich balsamischen Geruch. Ein Wort gab das andere. Schnell fühlten wir uns als Geistesverwandte. Vier Stunden lang erzählten wir uns Begebenheiten und Beobachtungen aus unserem Leben, und auch von unseren Erfahrungen in Mittel- und Südamerika. Ich sprach ihn darauf an, dass er mich (wie übrigens auch andere) an den Darsteller des jungen Dracula, Gary Oldman, erinnere, der in London in Francis Coppolas Film »Dracula« Mina, gespielt von Winona Ryder, umwirbt. Kaum konnte ich es glauben: Christian hatte bei einem Besuch in Los Angeles Winona Ryder, das Patenkind seines alten Freundes Timothy Leary, tatsächlich kennengelernt. Sie war spektakulär mit ihm in Hollywood im offenen Wagen zum Eis essen gefahren. Ich erfuhr, dass Christian mongolische Vorfahren hat, was sich in seinem Aussehen widerspiegelt. Ab und an spuckte das Faxgerät im Hintergrund meterlange Papierschlangen aus, oder im laut gestellten Telefon sprachen Menschen aus aller Welt Nachrichten auf das Band. Später kam Christians Frau und Forschungsgefährtin Claudia, schick ganz in weiß gekleidet, zu unserem Gespräch dazu. Christian führte mich zum Abschluss noch durch ihre zweite Wohnung. Da stapelten sich Bücher, Augen berückende Bilder, Schallplatten, CDs, Kult- und Ritualgegenstände (darunter ein prachtvoller Vijra, ein Donnerkeil), Thangkas, Musikinstrumente, Räucherwaren, ein Büffelschädel, Tierfelle, Federbüsche. Mir wurde klar: Hier ist ein Schamane zugange, wobei ich weiß, dass er diese Bezeichnung für sich ablehnte. In unserem Gespräch unterhielten wir uns auch über das »Spiel der Geister«, den sogenannten »Zufall« - die häufigen, überraschenden Fügungen in unserem Leben. Wenig später wollte es genau dieser Zufall, dass Katja und ich für ein paar Tage mit dem Zug von Frankfurt am Main in den Schwarzwald, zu einem Urlaub ins Höllental, fuhren. Wir gingen in den Speisewagen. Wen fanden wir dort? Claudia. Sie fuhr in die Schweiz zu einem Workshop. Ein anderes Mal stiegen wir in Hamburg aus dem Zug. Wer stand winkend auf dem Bahnsteig? Christian und Claudia. 2004, bei einer entheogenen Tagung im Botanischen Garten in Berlin (Foto) folgten Katja und ich mit Hunderten von Zuhörern einem engagierten Vortrag von Christian über die Wirkung des Balche‘-Ritualtrunks, den er bei den Mayas kennen- und zuzubereiten gelernt hatte. Mit Wasser vermengter Honig von stachellosen Bienen wird mit dem Mazerat der psychoaktiven Rinde des Balche‘-Baumes (Lonchocarpus violaceus) vergoren. Christian erzählte, voll aus dem eigenen Erleben schöpfend, so packend und humorvoll, dass ihm alle im Raum, Veranstalter wie Zuhörer, unisono gestatteten, seinen Vortrag weit über die vorgesehene Zeit zu überziehen. In den Jahren 2004/05 nahm ich an einer Ausstellung in Frankfurt am Main teil (»Druidenfuß und Hexenkessel. Magische Pflanzen im Palmengarten«). Ich war mit einer Vitrine vertreten, in der Exponate zum Mythos Fliegenpilz und dabei auch Bücher von Christian zu sehen waren, u. a. sein Buch »Pflanzen der Liebe«, in dem er den Fliegenpilz im Zusammenhang mit den orgiastischen Festen zu Ehren des griechischen Ekstase-Gottes Dionysos bespricht. Ich erzählte der Kuratorin der Ausstellung, Frau Dr. Hilke Steinecke, von den Forschungen, die Christian und Claudia zum Thema psychoaktive Pflanzen unternommen hatten, und von den tollen Büchern, die sie über das Thema verfasst hatten. Gern lud sie die beiden ein, im Palmengarten einen Vortrag zu halten. Claudia sprach über die Alraune (Mandragora officinarum), eine Zauberwurzel, die seit der Antike als Heil- und Ritualpflanze geschätzt ist, dermaßen kenntnisreich, dass ich mich in das Zeitalter der germanischen Seherinnen versetzt fühlte. Claudia erschien mir als eine moderne Albruna, eine Frau, die mit dem geheimen Wissen der Alben versehen ist. Christian trug, zu einem späteren Zeitpunkt, im völlig überfüllten Vortragssaal über Räucherstoffe vor. Dass er Proben dabei hatte und die Zuhörer mit Duftkompositionen aller Art überraschte und ihre Nasen entzückte, trug ihm Standing Ovations ein. Im Jahr 2005 brütete ich mit dem volkskundlichen Schriftsteller Clemens Zerling und dem Märchen- und Mythenforscher Sergius Golowin die Idee eines »Lexikon des Dunklen« aus. Ich rief Christian an und fragte, ob er mitmachen wolle. Spontan sagte er zu. Der AT-Verlag ermöglichte uns ein Zusammentreffen in Karlsruhe, damit wir uns über die Inhalte abstimmen und austauschen konnten. Hier erfuhren wir, dass Christian ein Experte für Black-Metal-Musik und bekennender (und kenntnisreicher!) Wagnerfan ist. 2006 erschien das fast 600 Seiten umfassende Lexikon unter dem Titel »Das Lexikon des Dunklen: Mythen – Kunst – Musik. Von der Antike über die Romantik bis zur Gothic-Kultur«. Das Buch stellt eine Datenbank mit dem Grundwissen zu allen dunklen Themen dar: Dunkle Überlieferungen, dunkle Einsichten, dunkle Träume, dunkle Lebensläufe. Christian ist darin mit zahlreichen spannenden Texten zu dunklen Seiten in der Musik und zu rauschhaltigen Neigungen ihrer Schöpfer vertreten. Mit Vergnügen las ich, dass Richard Wagner beim Komponieren seines »Parsifal« indischen Hanf als Stimulans anzünden ließ. Von Christian stammt das raffinierte Titelbild: Eine Perchtenmaske als schreckliche Fratze. Auf der anderen Seite der Doppelmaske erblickt man die Göttin aber als Lichtfee. Das Licht kommt aus dem Dunklen. Unvergesslich ist allen, die dabei waren, Christians Auftritt 2006 in Ludwigshafen am Rhein bei der SYMBOLON-Jahrestagung. Bei der Tagung ging es um die Wesen anderer Sphären. Christian trug über die Wilde Jagd vor, ließ sich dabei zu Boden gleiten, murmelte Zaubersprüche, bedeckte sich mit einem Wolfsfell und demonstrierte eine tiefe visionäre Trance. Nicht wenige schworen in der Rückerinnerung, das Fell sei ein Leopardenfell gewesen. 2007 lud Christian Katja, meine Frau, und mich zur Feier seines 50. Geburtstages ein. Der Ort der Feier überraschte uns: Das »Steinzeiten«-Museum am Rödingsmarkt, ein Mineralienzentrum, eingerichtet von seinem Besitzer Andreas Guhr, ein Mann, der auf vielen abenteuerlichen Reisen unseren Planeten nach seltenen Steinexponaten durchstöbert hat. Mit Andreas hatte Christian 1989 ein »Lexikon der Zaubersteine aus ethnologischer Sicht« verfasst. (Das Buch ist in meiner Bibliothek auch heute noch ein »Edelstein«.) Ehrfürchtig traten Katja und ich im Vorbeigehen eine Reise durch die Erdzeitalter an. Die versteinerten Fische, die uns von einer Sandsteinplatte grüßten, waren vor 50 Millionen Jahre im Tertiär entstanden. Das versteinerte Holz daneben hatte ein Alter von 220 Millionen Jahren und stammte aus der Trias. Und eine wuchtige Steinplatte mit einem langen goldenen Band aus Tigerauge erzählte, dass sie schon 2,5 Milliarden Jahre auf dem Buckel hatte. Bei den Dinosaurierskeletten aus dem Erdmittelalter beschleunigten wir unsere Schritte. Was, wenn so ein Drache plötzlich wach wird? Wir trafen, herzlich begrüßt von Christian und Claudia, auf eine bunte Gesellschaft, darunter Michael Günther vom Schweizer AT-Verlag, Achim Zubke, Redakteur des renommierten »Hanfblatt«, Ralph Cossack, ein Medizinhistoriker, der sich die Erforschung »des Wesens der roten Amanita« (Fliegenpilz) auf die Fahne geschrieben hatte, und den Verkäufer und Hersteller exquisiter Zaubertränke, Hans Georg Schaaf. Ein mit Köstlichkeiten reichlich bestücktes Buffet sorgte für das leibliche Wohl der Gäste und Mani Neumeiers Krautrockband »Guru Guru« für akustische Genüsse. Ein Höhepunkt war die Rede, die Christians (damals 86-jähriger) Vater zu Ehren seines Sohnes aus dem Stegreif hielt. (In der Aufregung hatte er das Manuskript zu Hause vergessen.) Um Mitternacht, zur Geisterstunde, erschien wie aus dem Nichts die Schauspielerin Angelika Landwehr, die Begründerin des kleinsten Theaters in Hamburg, als später Gast. Mit ihren Erzählungen zog sie alle sofort in ihren Bann und verdrehte den anwesenden Männern mit ihrem Charme hoch drei die Augen. Schließlich versuchte sie sich mit fliegendem Rock an einem Cancan, bevor sie die Nacht wieder verschluckte. Als sich Christian und Claudia mit Arno Adelaars 2015 in Kolumbien zu einer Recherche über den Heiltrank Ayahuasca trafen, schickte Christian mir eine Nachricht von einer Entdeckung: Er hatte auf einem Berg in 3500 Metern Höhe am Fuß von kleinen Pinien überraschend Fliegenpilze gefunden. Wir sind Christian und Claudia über die Jahrzehnte immer wieder begegnet, auf Entheogenen Kongressen, auf der Buchmesse in Frankfurt, bei den Verlagsjubiläen des Nachtschatten-Verlages in Interlaken und in Solothurn, und auch in Büchern und Zeitschriften, zu denen wir Beiträge beigesteuert hatten. Im Februar 2016 schauten wir uns in Frankfurt am Main im Archäologischen Museum gemeinsam die Ausstellung »Bärenkult und Schamanenzauber« an. Die einmaligen Artefakte beamten uns in die Welt der menschlichen Frühzeit. Sibirische Schamanenausstattungen und Bärenschmaus-Geschirr, saamische Bärengräber, Bildzeugnisse alt- und mittelsteinzeitlicher Hirschkulte gaben uns einen nachhaltigen Einblick in schamanische Rituale, die sich aus der Urzeit des Menschen, mehr als 40.000 Jahre zurück, bis heute erhalten haben. Ich hoffe, dass die Freunde, die in die ewigen Jagdgründe vorausgegangen sind, Timothy Leary, Jochen Gartz, Albert Hoffmann und Ralf Metzner, in der Obhut von Frau Holle beieinandersitzen und mit himmlischem Met mit Christian und auch mit Katja Redemann, meiner 2019 gestorbenen Frau, anstoßen, lachen und zaubern und auch weiterhin mit uns in Liebe verbunden bleiben. Wir bedanken uns bei Christian Rätschs Lebensgefährtin Claudia Müller-Ebeling für die Durchsicht des Textes und die Abbildungsgenehmigung. Werke (Auswahl) · Das Erlernen von Zaubersprüchen. Ein Beitrag zur Ethnomedizin der Lakandonen von Naha’ (= Ethnomedizin und Bewusstseinsforschung). Zugleich Dissertation an der Universität Hamburg. Express, Berlin 1985 · Indianische Heilkräuter: Tradition und Anwendung. Ein Pflanzenlexikon. Diederichs, Köln 1987; 7., aktualisierte Auflage 1999. · Hanf als Heilmittel: Eine ethnomedizinische Bestandsaufnahme (= Der Grüne Zweig. Bd. 154). Werner Piepers Medienexperimente und Nachtschattenverlag, Solothurn 1992 · Kinder des Regenwaldes: Über das Leben der Kinder der Lakandonen-Indianer. Coppenrath, Münster 1987; überarbeitete Ausgabe (= Der Grüne Zweig. Bd. 157): Werner Piepers Medienexperimente, Löhrbach [1993] · Räucherstoffe: Der Atem der Drachen. 72 Pflanzenporträts. Ethnobotanik, Rituale und praktische Anwendungen. AT-Verlag, Aarau 1996; 6. Auflage 2012 · Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen: Botanik, Ethnopharmakologie und Anwendung. Band 1. AT-Verlag, Stuttgart 1998; 13. Auflage: AT-Verlag, Aarau 2016 · Bier: Jenseits von Hopfen und Malz. Von den Zaubertränken der Götter zu den psychedelischen Bieren der Zukunft. Orbis, München 2002 · mit Claudia Müller-Ebeling: Lexikon der Liebesmittel: Pflanzliche, mineralische, tierische und synthetische Aphrodisiaka. AT-Verlag, Aarau 2003. · Der heilige Hain: Germanische Zauberpflanzen, heilige Bäume und schamanische Rituale. AT-Verlag, Baden 2005. · mit Arno Adelaars, Claudia Müller-Ebeling: Ayahuasca: Rituale, Zaubertränke und visionäre Kunst aus Amazonien. AT-Verlag, Baden 2006,. · Walpurgisnacht: von fliegenden Hexen und ekstatischen Tänzen. AT-Verlag, Baden 2007 · Vom Forscher, der auszog, das Zaubern zu lernen: Meine Erlebnisse bei den Erben der Maya. Kosmos, Stuttgart 2008 · Pilze und Menschen: Gebrauch, Wirkung und Bedeutung der Pilze in der Kultur. AT-Verlag, Aarau 2010 · Abgründige Weihnachten. Die wahre Geschichte eines ganz und gar unheiligen Festes. Riemann Verlag, München 2014 . Claudia Müller-Ebeling (Hg.), Seelenlandschaften: Bilder von der wahren Wirklichkeit. Festschrift zum 60. Geburtstag von Christian Rätsch. Nachtschattenverlag, Solothurn 2017 · mit Markus Berger: Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen – Band 2. AT-Verlag, Aarau 2022
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Zur Totenmaske des Tutanchamun, dessen Grab vor 100 Jahren gefunden wurde. von Peter Eschweiler Vor 100 Jahren, genauer im November des Jahres 1922, kam es im Tal der Könige beim ägyptischen Luxor zur wohl aufsehenerregendsten Entdeckung der Archäologie überhaupt: Der Brite Howard Carter, damals 48 Jahre alt, fand ein noch nicht geplündertes Pharaonengrab: „Habe endlich wunderbare Entdeckung im Tal gemacht. Prächtiges Grab mit intakten Siegeln“ telegraphierte er an seinen Geldgeber Lord Carnarvon. Der Rest ist bekannt. Die Grabbeigaben für einen noch ausgesprochen jungen und aus der altägyptischen Geschichte kaum bekannten König gehören heute zu den Ikonen der Weltkunst, vergleichbar allenfalls mit den Resten der Parthenonfriese aus Athen oder den Gemälden Leonardo da Vincis. Unendlich oft reproduziert, gedeutet, als Werbeträger nicht zuletzt auch für den Tourismus genutzt. Vor allem die berühmte Goldmaske, die unmittelbar auf der Mumie des Kindkönigs Tutanchamun lag, ist wohl jedem Kunst- und Kulturliebhaber bekannt und darüber hinaus so etwas wie das Marketing-Image des bevölkerungsreichsten Landes der arabischen Welt. Immer gut für einen Werbeclip oder als Hintergrundkulisse in einem Blockbuster aus Hollywood.
Heute ist sie so etwas wie der Nationalschatz Ägyptens. Und seit sie 1972 in Europa auf Reisen war und einen bis heute anhaltenden Hype der Altertumsbegeisterung auslöste, der Ausstellungen und Reiseangebote in großer Zahl zur Folge hatte, wird sie das Land am Nil auch nie wieder verlassen. Schlicht zu kostbar für jede Versicherung – und für die Ägypter ohnehin unverzichtbar als Sinnbild der Schönheit und Großartigkeit ihrer Kultur. Rund 54 cm hoch, etwa 11 Kilogramm schwer, gearbeitet aus Goldblech und verziert mit Obsidian, Glaspaste und seltenen Halbedelsteinen – fraglos eine echte Preziose unter den Schätzen des imaginären Museums der Weltkunst, das dem französischen Politiker und Publizist André Malraux in den 50er Jahren vorschwebte und das heute durch die mittlerweile über 1.000 Stätten und Objekte vertreten wird, die auf der Weltkulturerbeliste der UNESCO zu finden sind. Der früh verstorbene Pharao war höchst wahrscheinlich ein Sohn von Echnaton, also jenem König, der um 1.350 v. Chr. die alten Götter nicht mehr anerkennen wollte und sich und sein Volk allein dem Sonnengott unterstellte. Was früheren Interpreten des Geschehens häufig als eine revolutionäre Vorwegnahme des Monotheismus erschien, wird heute weniger romantisch als Machtkampf mit der Priesterschaft in der Hauptstadt Theben, heute Luxor, gedeutet. Amenophis IV., was soviel bedeutet wie „Der dem (Hauptgott) Amun Wohlgefällige“, nahm einen anderen Namen an („Der der Sonnenscheibe Wohlgefällige“ = Echnaton) und verlegte die Hauptstadt in eine bis dahin einsame Wüstengegend weit von Theben entfernt. Glanz an seinem Hof in Amarna verbreitete wohl in erster Linie seine Hauptfrau Nofretete, durch die in Berlin aufbewahrte Büste heute berühmter als ihr Mann. Und wie kam nun Tutanchamun zu seiner prunkvollen Grabausstattung? Nach dem Tod des Echnaton wurden die alten Machtstrukturen wieder hergestellt. Die Priester des Amun und der anderen großen Götter Ägyptens kamen wieder zu Ehren – und Pfründen. Und so bedankten sie sich bei dem Kindkönig, der ihnen selbstredend nichts entgegenzusetzen hatte. Und er erhielt einen ebenfalls passenden Namen: „Tutanchamun“ heißt soviel wie „Das lebendige Abbild des Amun“. Der junge Pharao wurde somit als Stellvertreter des alten Hauptgottes ausgezeichnet und sicherte so auch die Stellung der Priesterschaft in Theben, das wieder zur Hauptstadt wurde. Echnaton wurde offiziell verfemt und dem Vergessen anheimgegeben, auch Nofretete verschwand rasch in den Tiefen der ägyptischen Geschichte. Die alten Bestattungsriten und -gebräuche wurden wieder eingeführt, als hätte es Echnaton, jetzt bezeichnet als der „Verbrecher von Amarna“, nie gegeben. In diesem Jahr soll nun endlich – nach etlichen Jahren der Vorbereitung – das neue Grand Egyptian Museum in Kairo eröffnet werden. Und eines steht heute schon fest: Der wichtigste Publikumsmagnet wird die Maske des Tutanchamun sein. Dabei war diese eigentlich gar nicht dazu bestimmt, von unzähligen Menschen angeschaut zu werden. Sie sollte vielmehr dem verstorbenen König die Möglichkeit verschaffen, selbst zu sehen und teilzunehmen. Am Leben in einer anderen Welt natürlich. Niemand sollte damit Schauspielstücke aufführen, wie es die Griechen rund 1.000 Jahre später in ihren halbrund gebauten Theatern taten, und auch ein Gebrauch im Rahmen von Festen und Feierlichkeiten, wie er in der einen oder anderen Form aus zahlreichen Kulturen und Gesellschaften in aller Welt - vielleicht besonders eindrucksvoll in Afrika und Ozeanien - bezeugt ist, kam nicht infrage. Diese Maske war nur für den Pharao bestimmt und sollte in keine anderen Hände mehr übergehen. Wie gesagt – so gut wie jeder kennt die Maske! Umso erstaunlicher, dass sich ein längerer Text auf ihrer Rückseite findet, der kaum je angesprochen wird. Und dabei gibt gerade er Auskunft über Sinn und Zweck dieses „Weltkunstwerks“. „Sei gegrüßt, du mit freundlichem Gesicht, Herr ´des Schauens, den der Totengott Ptah wieder zusammengesetzt hat, den Anubis erhöht hat. Einer, dem der Schreibergott Thot die Himmelsstützen gegeben hat. Du mit freundlichem Gesicht unter den Göttern. Dein rechtes Auge ist die Tagbarke, dein linkes Auge ist die Nachtbarke. Du stehst vor dem Richter Osiris. Er sieht durch dich. Du führst ihn. Du verteidigst ihn und vernichtest seine Feinde. König Tutanchamun, der Gerechte. Ihm sei Leben gegeben gleich dem Sonnengott Re!“ Anders als wir heute verstanden die Priester im alten Ägypten und der König selbst diesen rätselhaften Text. Es ging darum, die Gesundung des Pharao von der Krankheit des Todes herbeizuführen, die verschiedenen Götter, deren Zuständigkeiten genau geregelt waren, dabei zu berücksichtigen und schließlich den Verstorbenen selbst zu befähigen, auch nach seinem Ableben in der neuen anderen Welt klar sehen und die Götter bei ihrem so wichtigen Geschäft der Aufrechterhaltung der Weltordnung tatkräftig unterstützen zu können. Insofern sollte die Maske, nicht anders als über 1.000 Jahre zuvor schon die riesigen Anlagen der Pyramiden, dazu beitragen, dass auch der tote Herrscher für sein Land weiter sorgen und die vertraute Welt gemeinsam mit seinen Vorgängern und den Göttern erhalten werde. Die gesamte Grabausstattung mit all ihren prachtvollen, einem König gebührenden Beigaben war dazu bestimmt, den jung verstorbenen Herrscher zu schützen und ihn in die jenseitige Welt der Ahnen und Götter einzubinden. Wir sprechen in solchen Fällen von Magie. Für die alten Ägypter war es eher eine Art von Geschäft: Wir geben dem König einiges mit auf den Weg, um ihm das neue Leben so angenehm und schön wie möglich zu machen. Er wird von den Ahnen und Göttern als einer der Ihren angenommen und arbeitet einfach weiter für sein Volk und seinen Staat, aus dem Grab oder Jenseits heraus. So betrachtet war das Gold besser investiert, als wenn man es wie in späteren Zeiten zum Bau von Schlössern und Palästen verwendet oder gleich in Tresore gesteckt hätte. Siehe auch: Peter Eschweiler, Bildzauber im alten Ägypten: Die Verwendung von Bildern und Gegenständen in magischen Handlungen nach den Texten des Mittleren und Neuen Reiches. Universitätsverlag Freiburg, Schweiz / Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (1994), S. 151. Externer Link: Eschweiler_1994_Bildzauber_im_alten_Aegypten.pdf Von »Wege und Grenzen« über »Harmonie und Missgestalt« zu »Natur und Künstlichkeit«: Themen der Jahrestagungen 2021 bis 2023 von Martin Weyers Eigentlich war es angedacht, unsere Jahrestagung am 08. April mit demselben Novalis-Gedicht beginnen zu lassen, mit dem unsere Tagung zur »Symbolik von Wegen und Grenzen« im August des Vorjahres geendet hatte: Die Linien des Lebens sind verschieden, Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen. Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden. Als Übergang vom Thema der »Wege und Grenzen« zu »Harmonien« und deren Gegenteil gedacht war die geplante Rezitation des Gedichts durch unser ältestes aktives Mitglied Wolfgang Krüger, der zudem an einem eigenen Vortrag zum aktuellen Thema gearbeitet hat. Leider ist er Weihnachten 2021 im Alter von 90 Jahren verstorben, sodass uns nur blieb, im Gedenken an ein hochgeschätztes und bis zuletzt blitzgescheites Mitglied auf Novalis zu verweisen. Erfreulich hingegen stimmt, dass unser jüngster diesjähriger Teilnehmer 11 Jahre alt war – und in der Diskussion um ägyptische Unterweltsymbolik mit einer Nachfrage zu den von Peter Eschweiler vorgestellten kultischen Messern punktete. Der Vorstand bedankte sich mit einer Urkunde, mit der die Anerkennung als unser jüngster Symbolforscher gewürdigt werden soll. Um unseren SYMBOLON-Nachwuchs brauchen wir uns offenbar keine Sorgen zu machen! Dasselbe gilt für die hochkarätigen Referenten, die unsere Tagung wieder zu einem intellektuellen und sinnlichen Vergnügen werden ließen – in der Symbolforschung ist das Zusammenklingen beider kein Widerspruch! Dank einer blitzschnell agierenden Technik, für die, wie schon im Vorjahr, der Physiker und IT-Spezialist Andreas Mang verantwortlich zeigte, konnten wir auch den kurzfristig erkrankten Prof. Jochen Hörisch über eine Videokonferenzsoftware hinzuschalten – eine Premiere auf unseren Tagungen! Die in zahlreichen Kommentaren anklingende große Unterstützung durch Teilnehmer und Referenten zeigt, dass wir uns als Verein auf dem richtigen Weg befinden. Stellvertretend für viele andere anerkennende Äußerungen, die uns motivieren und zu neuen Leistungen anspornen, sei hier Prof. Dr. Peter Cornelius Mayer-Tasch zitiert: »Auch Ihre diesjährige Tagung hat wieder hochinteressante Einblicke in die vielfältige Landschaft der Symbolforschung geboten, was wohl in erster Linie dem oder den Regisseur(en) der Tagung zu verdanken ist.« Das Kompliment gebe ich gern weiter an meine Mitstreiter im Vorstand, Dr. Werner Heinz, Isabell Bendt und Katrin Mang. Die Zusammenarbeit in mittlerweile quasi familiärer, vertrauter Atmosphäre gereicht allen Beteiligten zur Freude, und wird wohl auch im kommenden Jahr wieder Früchte tragen. Dass zum kommenden Tagungsthema wiederum eine natürliche Verbindung besteht, wurde im Vortrag von Viktor Kalinke über den altchinesischen Philosophen Zhuangzi unversehens deutlich, als der Referent – ohne Kenntnis des bereits beschlossenen Themas für das kommende Jahr! – über »Natur und Künstlichkeit» in der taoistischen Philosophie und Symbolik sprach. Tatsächlich lautet das Thema unserer kommenden Jahrestagung vom 28. bis 30. April 2023 im Augustinerkloster Erfurt, wie traditionell am Ende der vorherigen Tagung verkündet: »Symbolik von Natur und Künstlichkeit«!
(Mehr Informationen zum Tagungsprogramm, sowie das Programmheft als PDF finden Sie auf der Ankündigungsseite.) von Martin Weyers Dem Symbolkundigen verrät sie mehr, als sich dem Augenschein offenbart: Die Inschrift auf dem in Bronze gegossenen Epitaph – also dem über dem eigentlichen Grab befindlichen Aufbau mit Bildern und Texten – von Graf Georg II. von Helfenstein (1519 – 1573) in dem kleinen Örtchen Neufra (Riedlingen) an der Oberen Donau ist nämlich als Chronogramm zu verstehen. Darunter werden Texte verstanden, »die zugleich Zahlzeichen bedeuten und die als solche gelesen werden sollten« (W. Heinz). Ein »Chronostichon« indes ist ein Chronogramm im Versmaß des Hexameters. Die römischen Ziffern im Fließtext ergeben in der Addition eine zusätzliche Information – häufig, und so auch hier, das Todesjahr der Person, zu deren Angedenken und Seelenheil das Epitaph errichtet wurde. »Graf Helfensteins Totentafel: Ein Chronostichon« lautet der Titel des Pilotaufsatzes im soeben erschienenen neuesten Band der »Bibliographie zur Symbolik, Ikonographie und Mythologie«, in dem Werner Heinz kunsthistorische, mentalitätsgeschichtliche und (insbesondere zahlen-)symbolische Erkundungen anstellt. Bereits 1968 begründet von Manfred Lurker – bis zu seinem Tode über viele Jahre hinweg prägender Mitgestalter unseres Vereins –, wird die bibliographische Reihe heute von unserem langjährigen Vorsitzenden Hermann Jung herausgegeben.
Die akkurate und zugleich gut lesbare Übersetzung der Vita des Grafen Georg II. steuerte der Historiker Oliver Münsch bei. Dieser wiederum zeichnete im vorherigen Band der »Bibliographie zur Symbolik …« für den Pilotaufsatz verantwortlich: »Der „Gang nach Canossa“: Vom Ereignis zum Symbol«. Beide Beiträge wurden ursprünglich 2018 bzw. 2019 als Vorträge im Rahmen unseres Symbolforscherkreises im Nibelungenmuseum, Worms, präsentiert. Dort konnten wir 2019 auch die Riedlinger Stadtarchivarin Stefanie Hafner begrüßen, der Autor Werner Heinz u. a. einen wichtigen Literaturhinweis verdankt. Text: Martin Weyers, auf der Grundlage des vorgestellten Pilotaufsatzes Bibliographie zur Symbolik, Ikonographie und Mythologie (externer Link) von Martin Weyers Auf unserer Jahrestagung 2021 waren die Referenten aufgerufen, »Symbole von Wegen und Grenzen« zu thematisieren – oder aber die Grenzbereiche der Forschung selbst zu erkunden und auszuloten. Letzteres vollzog der Germanist, Philosoph und Volkskundler Thomas Hoeffgen anhand einer vergleichenden Betrachtung zwischen dem schamanistischen Symbolsystem und den Anfängen der abendländischen Philosophie, die nicht zuletzt in initiatischen Ritualen wurzelt. Die zunächst auf die Tragweite und Universalität von Begriffen und Sinnbildern bezogene Diskussion lässt sich, hieran anknüpfend, als ethische Auseinandersetzung weiterführen. Wieweit lassen sich Begriffs- und Symbolsysteme, die in einer bestimmten Kultur entstanden sind und sich innerhalb dieses Rahmens über Jahrhunderte weiterentwickelt haben, auf eine andere übertragen? Fördert ein solches Vorgehen Verständnis, oder werden bloß vorschnelle Gleichsetzungen generiert? Und dient die Aneignung fremder kultureller Überlieferung dem respektvollen Umgang mit dem Anderen, oder bedient sie sich bloß in dessen Repertoire im Sinne einer kulturellen Ausbeutung? Derlei Fragen sind sicherlich nicht allgemein zu beantworten, sondern müssen stets im Einzelfall geprüft werden. von Martin Weyers Unsere diesjährige SYMBOLON-Jahrestagung vom 27. bis 29. August 2021 widmete sich der Symbolik von Wegen und Grenzen, sowie den Möglichkeiten und Limitationen wissenschaftlicher Forschung im Allgemeinen und speziell der Symbolforschung. Mit 38 angemeldeten Teilnehmern war die Tagung gut besucht, vertreten waren alle relevanten Altersklassen, vom wissenschaftlichen Nachwuchs bis zu unserem mit 90 Jahren ältesten Teilnehmer. Letzterer gehörte zugleich zu den aktivsten Diskussionsteilnehmern, und leitete abschließend mit einem Hölderlin-Gedicht zur nächsten Tagung über, auf der wir vom 08. bis 10. April 2022 »Symbole von Harmonie und Missgestalt« untersuchen werden: Die Linien des Lebens sind verschieden, Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen. Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden. Doch zunächst zu »Wege und Grenzen«! Das Thema umschreibt einen ambivalenten Symbolkreis und ist keineswegs als absolut zu setzendes Gegensatzpaar aufzufassen. Man denke etwa an Straßen oder Flüsse, die einerseits der Mobilität dienen, aber auch ein Hindernis darstellen können, sofern wir sie zu überqueren trachten. Meinen Kollegen Werner Heinz, 2. Vorsitzender von SYMBOLON, hatte ich um einen Überblick über »Schwellen und Pforten: Zur Symbolik architektonischer Grenzziehungen« gebeten. Grenzen gezogen werden z. B. zwischen weltlicher und geistlicher Macht, wie hier an der romanischen Gerichtstür der Sindelfinger Stiftskirche, wo der Zugriff der weltlichen Macht endete. Solche Übergangszonen lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen, wo sich der Tempelbezirk von der äußeren Welt abgrenzt – in Ägypten gleichgesetzt mit dem Chaos. Tempeltore und Stadttore konnten somit zu Orten der Rechtsprechung werden. Die Türschwelle spielt auch im Volksglauben und im Zaubermärchen eine bedeutsame Rolle. Wolfgang Bauer berichtete über »Schwellen und Grenzen in Zaubermärchen«, von Ritualen und Bräuchen, die in Verbindung mit der Schwelle stehen, und der Schwelle als einem Ort von Weissagung und zauberischer Handlungen, wobei sich auf der Türschwelle im kleinen, häuslichen Bereich wiederholt, was sich auch in Höhlen, Brunnen und anderen Orten des Übergangs in die Anderswelt ereignen kann. Dabei kommt es oftmals auf eine bestimmte Fertigkeit, ein Wissen oder einen Segen an, die »Schwellenangst«, wie es sprichwörtlich heißt, zu überwinden, und seiner Bestimmung zu folgen. Aber nicht nur Schwellen und Pforten sind mit Transformation und einer Abwendung von Unheil verbunden. Eine wichtige Funktion von Symbolen besteht in ihrem Potential, in Krisenzeiten Hoffnung zu geben. Davon handelte der Vortrag von Peter Cornelius Mayer-Tasch: »Von der Symbolnot unserer Zeit«. Prof. Mayer-Tasch ist u. a. Herausgeber des Buches »Zeichen der Natur«, über sieben Ur- und Natursymbole der Menschheit, sowie deren kontemplatives Potential. In seinen Büchern und Vorträgen versteht er es, die Grenzen zwischen Wissenschaft, Politik und Lebenskunst spielerisch zu überschreiten. Auch unsere Haut ist eine Grenze, eine durchlässige zwar, deren Unversehrtheit jedoch zugleich eine besondere Bedeutung zukommt. Hermes Andreas Kick stellt ihre Verwundung in den Mittelpunkt seines Beitrags: »Erlösungsweg und Versöhnung im Verständnis verwundeter Leiblichkeit in Richard Wagners Parsifal«. Dabei wird Verwundung und Heilung – auch im Sinne von Versöhnung – als künstlerisches Thema übertragen auf die heutigen Herausforderungen für die Gesellschaft und den Einzelnen, heilsame Lösungen zu entwickeln. Ein weiteres Beispiel für die Hoffnung-generierende Kraft lebendiger Symbole lässt sich in der Nachkriegskunst finden: Rhythmus, etwa bei Theodor Werner als »Elementar- und Generalsymbolum« für eine freie absolute Malerei, oder bei den plastischen Werken eines Henry Moore oder Eduardo Chillida. Das Manuskript von Christa Lichtenstern wurde aufgrund einer akuten Erkrankung der renommierten Kunsthistorikerin von Werner Heinz vorgetragen: »Rhythmus als Lebenssymbol im Aufbruch der internationalen Nachkriegskunst«. Und schließlich öffneten wir uns für Anregungen aus indigenen Kulturen, um unser Naturverhältnis im Hinblick auf die Frage zu untersuchen, wieweit sich »wildes Denken« revitalisieren lässt und möglicherweise zu einer harmonisierenden Reaktion auf die sich immer deutlicher abzeichnenden »Grenzen des Wachstums« (Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, 1972) beitragen kann. »Wildes Denken«, so nannte der Ethnologen Claude Lévi-Strauss die Welterfahrung und Weltdeutung indigener Kulturen, die nicht wie unsere von Analyse und begrifflicher Abstraktion, sondern vielmehr von Mythen und Symbolen geprägt sind, die auf die Vernetzung der Lebenswelt verweisen. Am Samstagabend zeigten wir den neuen Film von Rüdiger Sünner, »Wildes Denken: Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt«. Am Sonntagmorgen sprachen wir dann mit dem Regisseur über seinen Film. Dass der Film inspirierte und seine Macht bewies, eigenes Potential zu entfalten, konnte man schon an der Vielzahl der zum Teil sehr persönlich formulierten Wortmeldungen aus dem Publikum ablesen. Eine wichtige Rolle kommt in den indigenen Kulturen dem Vermittler zwischen den Welten vor, etwa in Form des Schamanen. Thomas Höffgen schlug eine Annäherung an die schamanische Welt über das europäische Symbolsystem klassischer Philosophie vor, und untersuchte die Möglichkeiten, das Fremde durch vertraute Begriffe für uns fruchtbar zu machen: »Der Weg des Schamanen aus philosophischer Perspektive«. In zwei Beiträgen, die sich Fragen der Methodik zuwendeten, konnten wir erleben, wie sich auch die Beschäftigung mit dem »Handwerkszeug« des Symbolforschers spannend gestalten lässt. Mit den bronzezeitlichen Felszeichnungen im schwedischen Tanum schauten wir uns ein konkretes Beispiel für ein »wildes Symbolsystem« an, das die Symbolforschung vor eine nicht leichte Aufgabe stellt, und an Grenzen führt: Nicole Höffgen zeigte an diesem spektakulären Beispiel die Möglichkeiten auf, sich einem Symbolsystem, zu dem uns der »Schlüssel« fehlt, durch Auffassung als Kanon anzunähern: »Die Felszeichnungen von Tanum. Ein religionswissenschaftlicher Weg zu einem wilden Symbolsystem«. Dabei widerstand die Referentin der Versuchung, vorschnelle Deutungen vorzunehmen und zeigte auf, wie sich auf seriöse Weise eine Grundlage für ein annäherungsweises Verständnis erarbeiten lässt. Noch in diesem Jahr erscheint eine erweiterte Neuauflage eines Standardwerks der »Symbolforschung in der Germanistik: Das »Metzler Lexikon literarischer Symbole« von Günter Butzer und Joachim Jacob, dessen Gebrauch nun durch ein umfassendes Bedeutungsregister erleichtert wird. Joachim Jacob stellte die Grundlagen ihrer lexikographischen Arbeit und die sich daraus ergebenden Forschungsperspektiven vor. Wie lassen sich derart unterschiedliche Perspektiven zusammenbringen? Am besten bei einem bayerischen Bier, zu dem sich unsere vielfältigen »Linien des Lebens« an zwei Abenden in der Bierstube des unmittelbar an der Krämerbrücke gelegenen »Augustiner« zusammengefunden haben! Hier wurden sogleich auch die Perspektiven der kommenden Tagung zu »Harmonie und Missgestalt« diskutiert. Die Tagung bewegte sich zwischen Germanistik, Religionswissenschaft, den Altertumswissenschaften, der Mythen- und Märchenforschung, Psychologie und Musikwissenschaft – über einen Austausch zwischen diesen Fachgebieten hinaus dürfen wir hoffen, dass sich durch die verbindende Kraft der Symbole der ein oder andere Weg aus der Krise abzeichnen möge. Text: Martin Weyers, unter Verwendung der eingereichten Abstracts (Mehr Informationen zum Tagungsprogramm, sowie das Programmheft als PDF finden Sie auf der Ankündigungsseite.) |
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