56. Jahrestagung 2017
Zeit & Zeitlosigkeit
Der moderne Mensch ist ein aus der zeitlosen mythischen in die verrinnende historische Zeit gefallener. In Kunst und Musik suchen wir dem Zugriff der Zeit zu entkommen, aufgehoben in einer Erlebnisblase, die der fragilen Gegenwärtigkeit einen vorübergehenden Schutzraum gewährt. Die Zeit des Mythos ist zeitlose Urzeit, erfahrbar gemacht im mythischen Ritual, aus dem Kunst und Musik hervorgegangen sind, und von dem sie
einen Hauch bewahrt haben, bis hinein in unsere mythenvergessene Uhrenzeit.
In unserer Alltagserfahrung begegnet uns die Zeit auf mannigfaltige Weise: Linear, als kausale Abfolge und auf ein Fernziel gerichtet, das es zu erreichen gilt, oder aber verrinnend und an Vergänglichkeit gemahnend, dem unvermeidlichen Tod entgegeneilend; zuweilen zirkulär, etwa wenn wir im Jahreskreislauf wiederkehrende Feste feiern; träge und in schier endloser Dehnung begriffen oder flüchtig an uns vorüberrauschend.
In all diesen unterschiedlichen psychischen Erscheinungsformen spiegelt sich das historische Erbe verschiedener Zeitvorstellungen – die sich umgekehrt zugleich einer Reihe disparater Erfahrungsweisen von Zeit
verdanken. In den linearen Zeitläufen sind wir – auf ein utopisches Ziel gerichtet – gemeinsam mit der auf Fortschritt ausgerichteten Wissenschaft Kinder der christlichen Theologie, in den zyklischen Erben vorchristlicher
Traditionen.
Erscheint die Welt etwa in den Gemälden der Renaissance zentralperspektivisch aufgefasst wie eine Bühne, der Raum wie ein geometrisch berechenbares Behältnis, in dem sich die Zeitlichkeit des Lebens gleich einem Uhrwerk abspielt, so lassen die Konzepte der modernen Physik die uns angeborenen Kategorien von Raum und Zeit weit hinter sich und entziehen sich daher weitgehend symbolhafter Repräsentation; man denke etwa an die Raumzeit in ihrer Verformbarkeit, versuche, sich die an Stelle eines unbewegten göttlichen Verursachers getretene Singularität – im Sinne eines erkenntnistheoretisch unüberwindbaren Horizontes – vorzustellen, oder aber neuere Theorien, die sich auf Quantenbits beziehen, zu visualisieren.
Bereitete dem Aurelius Augustinus, dem der Kosmos wie eine sich in der Zeit entfaltende göttliche Liedkomposition vorkam, der Gedanke an teleologische Vorherbestimmtheit Kopfschmerzen, so bedeutet die Auffassung von der zukünftigen Zeit als offene Potentialität Ungewissheit und Freiheit zugleich.
Welche Rolle spielen zyklische und lineare Zeitmodelle in der Symbolik? Wie wirken sich unterschiedliche Vorstellungen und Erfahrungen von Zeit auf die Sinnbilder von Kunst, Mythos, Religion und Wissenschaft aus? Und wie kommen diese Sinnbilder unserem Streben nach Sinnhaftigkeit entgegen? Welche Bedeutung haben sie für unser Verhältnis zu den Gesetzmäßigkeiten der Natur und unseres biologischen Prozessen unterworfenen Daseins? Wie lässt sich Zeitlichkeit außer Kraft setzen, von der halluzinogenen Wirkung des Fliegenpilzes bis zur Kontemplation mittelalterlicher Christusbildnisse?
Als Symbolforscher bewegen wir uns zwischen äußerer und innerer Zeit, folgen den Spuren, die unterschiedliche Auffassungen und Erlebnisweisen von Zeit in den bildnerischen Erzeugnissen der Kulturen hinterlassen haben und diskutieren ihre Relevanz vor dem Hintergrund neuester Erkenntnisse aus Psychologie, Geistes- und Naturwissenschaft.
Martin Weyers
Vorsitzender, SYMBOLON